„Musik ist eine Form von Kunst mit Bildungskraft“
Sonnabend, 24. Februar 2018, 10:00 Uhr
Anno 2008 war es, als Talco erstmals auf St. Pauli war. Und so nahm eine kleine deutsch-italienische-Fußball-Punk-Rock-Beziehung ihren Lauf. 2009 erschien mit den Fanräumen die erste gemeinsame Single, 2010 spielte Talco natürlich auf dem Jahr100-Festival, viele kleinere Begegnungen zu vielerlei Anlässen folgten. Auch am Sonntag beim Heimspiel gegen Holstein Kiel wird die Band am Millerntor sein und nach der Partie ein Gratis-Konzert in den Fanräumen spielen. Wir sprachen mit Sänger Dema über die Verbindung zum FC St. Pauli, die Zukunft des Fußballs und das neue Album der Jungs.
Vor zehn Jahren habt Ihr Euch in den FC St. Pauli verliebt – wie ist es dazu gekommen?
Der FC St. Pauli war in der italienischen Musikszene schon immer sehr beliebt. Als wir dort vor zehn Jahren gespielt haben, haben wir beschlossen, dem Verein und den Fans einen Song zu widmen, da sie europaweit einzigartig sind. Wir haben den St. Pauli-Song für unsere dritte Platte "Mazel Tov" aufgenommen. Dank des Fanräume-Projekts ist der Kontakt immer sehr eng gewesen. Seitdem fühlen wir uns dem Verein stark verbunden.
Seit der ersten Begegnung mit dem Verein kommt Ihr regelmäßig nach Hamburg zurück. Warum?
Inzwischen sind wir als Band wesentlich bekannter, aber in Hamburg sind wir schon immer fantastisch behandelt worden. Seit unserem ersten Auftritt wächst die Verbindung zum Verein und seinen Fans jeden Tag. Für uns sind Termine in Hamburg wegen des gemeinsamen Bezugs zu Fußball und Politik bei jeder Deutschland-Tour Pflicht. Mit anderen Worten ausgedrückt: Wir sprechen die gleiche Sprache.
Welche Erinnerungen an St. Pauli sind bei Euch am stärksten hängen geblieben?
Es gibt vielleicht zwei Momente: Erstens der Tag, an dem wir zur Jahrhundertfeier des Vereins vor 22.000 Fans im Stadion gespielt haben. Wahnsinn. Dann das erste Mal, als wir in Hamburg gespielt haben und danach zum Spiel gegangen sind. Zweite Liga, ausverkaufte Hütte und das ganze Stadion geht mit… So etwas haben wir in Italien nie gesehen!
Wie sind Fußball und Musik Deiner Meinung nach verbunden?
Abgesehen von der politischen Seite ist es bei unseren Liedern ziemlich offensichtlich, dass sowohl Fußball als auch Musik eine Form von Kunst sind. Beide erzeugen Emotionen, beide können Hand in Hand gehen und sich gegenseitig helfen.
Gibt es irgendwas, was der Fußball von der Musik in Sachen politische Bildung lernen kann?
Sicher, da das Stadion ein Teil der Gesellschaft ist und von vielen Menschen besucht wird. Antonio Gramsci sagte, dass den Menschen Politik beigebracht wird und die Menschen müssen gebildet werden. Das Stadion bietet eine Möglichkeit, Kultur zu schaffen, gegenseitigen Respekt zu zeigen und als Gemeinschaft zusammen zu sein. Als ich mit meiner Mannschaft gespielt habe, kamen einige meiner Mitspieler aus gestörten Familien, und viele von ihnen haben ihre Karriere durch Fußball gerettet. Das ist der Geist, der mich dazu bringt, diesen Sport zu lieben, auch wenn er verzerrt wird...
Euer neues Album geht auf sozial relevante Themen ein. Worin seht Ihr einen Grund für die aktuellen Probleme in unserer Gesellschaft?
Der Individualismus und die Suche nach Popularität – in Verbindung mit Populismus und Ignoranz – haben eine verheerende Wirkung auf die Moral und die moderne Gesellschaft. Fußball ist nur eines von vielen Beispielen, und ehrlich gesagt sehe ich die Zukunft pessimistisch. Zum Thema Fußball hier in Italien: Totti hört auf. Für die Mannschaft von Roma war er ein Aushängeschild, so wie Maldini bei Milan oder Zanetti bei Inter… Es haben sich viele Leute dahingehend geäußert, dass er seine Karriere verbockt hat, indem er nicht zu Real Madrid gewechselt ist, um höhere Ziele zu erreichen. Das ist die Mentalität, die den Egoismus gefüttert hat sowie das Geschäft, das versucht, diesen Sport zu zerstören.
Worin besteht die Herausforderung, bzw. die Pflicht oder die Aufgabe für uns alle?
Wir müssen zurück zu dem Moment in der Vergangenheit, bei dem uns die Leidenschaft sowie das globale Gewissen dazu zwingt, eine bessere Zukunft zu gestalten, eine ehrlichere und moralischere Zukunft, in der uns die Technik mehr Freude bereitet, als es jetzt der Fall ist.
Ihr sprecht außerdem von der Kommerzialisierung des Fußballs – wie lautet Deine Kritik?
Wie ich schon sagte, der Egoismus, die Korruption, der Drang nach Macht. Das tötet den Sport. Es ist eine Parallelwelt, die aus der Poesie ein Rennen nach Geld gemacht hat mit dem Bedürfnis nach dem Gefühl, ein Sieger zu sein. Unschuld und Moral, alles weg. Und das sehen wir schon als "normal" an.
Hast Du Angst um die Zukunft des Fußballs?
Ja, habe ich, insbesondere in Italien, wo die Korruption Teil der Politik ist und sich der Fußball in ein Chaos verwandelt hat. Wenn die Nichtteilnahme an der WM als dramatisch angesehen wird, dann hat sich nichts geändert. Wenn sich jetzt nichts ändert, dann haben wir einen schweren, düsteren Weg vor uns.
Was wäre die Lösung?
Von Anfang an mit der Erziehung anfangen, zu Hause – vergiss den Ruhm und das Geld, die Manager und die Verträge – und der Bildung eine größere Rolle im Fußball einräumen. Aber das ist utopisch.
Was sind Eure Ziele, was bewegt Euch, immer wieder den Finger in die Wunde zu legen?
Uns hat es immer Spaß gemacht, über Dinge zu reden, die wir lieben. Wir haben zwar keinen Bildungsanspruch, aber es stimmt schon, dass die Musik eine Form von Kunst mit Bildungskraft ist. Wenn es den Leuten Spaß macht, unsere Musik zu hören, sehe ich da nichts Gefährliches.
Heute spielt der FC St. Pauli gegen Holstein Kiel: Was würdest Du den Spielern in der Kabine zur Vorbereitung auf das Spiel sagen?
Besser als Worte würde ich ihnen als Musiker einen Song spielen, damit sie sich besser aufs Spiel konzentrieren können. Das habe ich früher auch gemacht, bevor ich auf den Platz gegangen bin. Es hat funktioniert.
Vielen Dank für das Gespräch!
Wer jetzt Lust bekommen hat, die Jungs live zu erleben, hat schon am Sonntag nach dem Heimspiel gegen Holstein Kiel die Gelegenheit dazu. Dann spielen Talco in den Fanräumen in der Gegengerade ein Akustik-Konzert. Der Eintritt ist frei! Alle Infos: KLICK!
(lf)
Fotos: Talco