Unsere Torhüter: "Offensiver Umgang mit der sensiblen Position"
Montag, 27. April 2020, 14:00 Uhr
Nein, es geht längst nicht mehr nur darum, einfach die Bälle zu halten. Das Spiel des Torhüters ist anspruchsvoller und komplexer geworden. Auch in unserem Nachwuchsleistungszentrum (NLZ) sollen unsere Keeper nicht nur Torverteidiger, sondern auch Feldspieler sein. In der individuellen Arbeit mit ihren Schützlingen nehmen aber auch die zwischenmenschliche Basis und der mentale Bereich Schlüsselrollen ein.
Die WhatsApp-Gruppe glüht. NLZ-Torwartkoordinator Matthäus Witt, der die U23 und U19 betreut, steht im ständigen Austausch mit seinen Torwarttrainerkollegen Mirco Weiß (U17, U16), Miguel Mudryk (U15, U13) und Julian Tigges (U14, U12). Briefen, austauschen, reflektieren. Zusätzlich hält das Quartett für die NLZ-Torhüter aus den verschiedenen Jahrgängen jeden Mittwoch in einer gemeinsamen Sitzung ein Videoteachment via Microsoft TEAMS ab. Alle Schützlinge bekommen Übungen und Hausaufgaben mit auf den Weg, welche athletische mit kognitiven Aufgaben verbinden. "Sie sind nun Mal die einzigen, die mit den Händen dürfen und deswegen brauchen sie eine spezifische Betreuung", erklärt Witt, der hinzufügt: "Das Torwartspiel ist dadurch zwar irgendwo eine eigene Sportart in der Sportart, aber die Verzahnung mit der Mannschaft muss dennoch gegeben sein."
Der 32-jährige Witt ist ausgebildeter Sportwissenschaftler. Er studierte nach seinem Abitur in Hamburg an der hiesigen Universität und schloss sein Studium 2016 mit der Masterarbeit zum Thema "Fußballtorhüter und ihre Bewegungseffizienz" ab. Der gebürtige Lübecker spielte selbst in seiner Jugend und auch im Herrenbereich höherklassig. Im Alter von 20 Jahren allerdings beendete er relativ früh die aktive Laufbahn und verband fortan das Studium mit der Leidenschaft des Trainerberufs. Von 2012 bis 2016 arbeitete Witt bereits studienbegleitend im NLZ und war maßgeblich für die erfolgreiche Torhüterzertifizierung im Jahre 2014 verantwortlich.
Nach einem kurzen, aber auch lehrreichen Abstecher als Profi-Torwarttrainer beim Drittligisten aus Halle, vermochte NLZ-Leiter Roger Stilz Witt von einer Rückkehr zu den Kiezkickern zu überzeugen. "Ich kann mich an die ersten Begegnungen mit Matthäus in 2016 erinnern. Und an die ersten Gespräche, die weit mehr umfassten als die Jobbeschreibung. Matthäus ist innovativ, kreativ, kooperativ – und hat einen guten Humor. Ich sage so etwas eher selten, in diesem Fall fällt es mir leicht: Er ist die perfekte Besetzung für die Stelle und für den FC St. Pauli", sagt NLZ-Leiter Stilz.
Witts Devise ist es, den Spieß umzudrehen. Und nicht immer davon zu sprechen, Fehler vermeiden oder vermindern zu müssen, sondern von der Kraft des Mutigen auszugehen. Selbsterklärend kann der Torhüter mit seinen Aktionen auf dem Feld in Sekundenschnelle großen Einfluss auf den Spielverlauf nehmen. "Die Position ist sehr sensibel, aber ich möchte offensives Denken vermitteln", betont Witt. "Noch viel mehr als bei den Feldspielern entscheidet sich das Spiel bei den Torhütern mental. Auch die besten Konzepte haben daher keinen Wert, wenn wir nicht in die Köpfe unserer Jungs gelangen. Trotz der Sensibilität der Position soll der Fokus nicht auf den Fehlern liegen, sondern auf einer selbstbewussten und mutigen Spielweise. Wir wollen nicht defizitär denken, sondern entwicklungs- und erfolgsorientiert."
Deswegen ist das Anforderungsprofil an die Schlussmänner in der Vergangenheit immer stärker gewachsen. Und umso mehr ist auch die Arbeit ihrer individuellen Coaches gefordert. "Ein Torwart muss alle mannschaftstaktischen Aspekte aufsaugen und zeitgleich in seiner eigenen kleinen Welt sein Setting abrufen", sagt der 30-jährige Weiß, der seit über fünf Jahren beim FC St. Pauli in der Torwartbetreuung tätig und Witts engster Mitstreiter ist. "Das Arbeitsfeld ist sehr breit gefächert. Wir wollen gut ausbilden und müssen dafür viele verschiedene Ebenen abdecken."
Eine Ebene, die im Moment nur schwer zu kompensieren ist, ist der technische Bereich. Aber auch die Intimität des Torwarttrainings, die Motivation und die Korrektur fehlt den Beteiligten sehr. "Wir versuchen sehr detailversessen und akribisch zu arbeiten", erklärt Weiß. "Mir persönlich ist es besonders wichtig, eine gewisse Emotionalität auf den Platz zu bringen. Das ist das, was im Moment am meisten fehlt."
Dafür nutzen Witt und Weiß die neu gewonnene Zeit anders. Jeder für sich nimmt an verschiedenen Seminaren und Vorträgen teil, um sich auch mit anderen Vereinen auszutauschen. Witt referierte zuletzt beim polnischen Erstligisten Pogon Stettin selbst und wird dort Anfang Mai vor weiteren Vereinen sprechen. Während der Corona-Zeit gibt es viele Online-Angebote, für die sich die Beiden nun die Zeit nehmen können. Und bereits jetzt brennt es ihnen unter den Torwarthandschuhen auf den Nägeln, die neuen Ansätze in der Praxis auszutesten.
(ms)
Fotos: FCSP / Olli Mueller Photography