Holocaust-Überlebende Esther Bejarano: "Die politische Situation ist beängstigend"
Sonnabend, 27. Januar 2018, 09:00 Uhr
Esther Bejarano hat das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau überlebt. Anlässlich des Holocaust-Gedenktages sprachen wir mit der 93-Jährigen über ihre Geschichte und ihr politisches Engagement in der heutigen Zeit.
Hallo Frau Bejarano, der 27. Januar, der Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau im Jahre 1945, ist heute der Holocaust-Gedenktag. Wann wurden Sie befreit?
Nach meiner Zeit in Auschwitz bin ich in das Konzentrationslager Ravensbrück gekommen. Gegen Ende des Krieges schickte man mich mit den anderen Inhaftierten auf den sogenannten Todesmarsch. Dort konnten insgesamt sieben Mädchen in einen Wald flüchten. Jede Einzelne von uns hat sich hinter Bäumen versteckt und abgewartet.
Wie ging es für Sie weiter?
Man konnte nie wissen, was kommt. Um uns herum waren sowohl die Russen als auch die Amerikaner unterwegs. Das war natürlich eine sehr prekäre Lage. Zum Glück hat alles geklappt. Erst waren wir im russischen Sektor. Dort gab man uns einen Platz zum Übernachten. Wir sind dann jedoch auch vor ihnen geflüchtet. Sie wollten mit uns eine Party feiern. Das wollten wir aber nicht. Wir kamen auf eine Landstraße, auf der viele Geflüchtete aus Berlin gingen. Heute erinnert mich das an die Geflüchteten, die aktuell nach Deutschland kommen und nicht wissen, was auf sie zukommt. Bis wir in ein Dorf kamen, sind wir mit ihnen zusammengeblieben. Dort durften wir in der Scheune eines Bauern übernachten. Am nächsten Morgen fuhren amerikanische Panzer vor. Gemeinsam mit den Amerikanern fuhren wir nach Lübz, wo wir in ein Restaurant eingeladen wurden und den Amerikanern von unserer Geschichte im Konzentrationslager berichteten. Bis zu diesem Zeitpunkt hatten wir keinem erzählt, dass wir in einem Konzentrationslager waren. Die Strä ingskleidung hatten wir in der Zwischenzeit ausgezogen. Als ich erwähnte, dass ich im Mädchenorchester von Auschwitz war, schenkte mir ein amerikanischer Soldat ein Akkordeon. Doch nur unter der Bedingung, dass ich spiele und wir gemeinsam singen, da der Krieg bald vorbei sein müsste. Kurze Zeit später traf die Rote Armee ein. Amerikaner und Russen umarmten und küssten sich und ein russischer Soldat schrie: „Hitler ist tot, der Krieg ist aus.“ Das war unsere Befreiung.
Bevor Esther Bejarano sich befreien konnte, überlebte sie drei Konzentrationslager. Darunter das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau, das einzig zur Tötung von Menschen errichtet worden war. Hier musste sie zu Beginn Steine schleppen. Als das Mädchenorchester von Auschwitz gegründet wurde, war es ihr musikalisches Geschick, das ihr vermutlich das Leben rettete und ihr einen Platz als Akkordeonspielerin im Orchester einbrachte. Von da an musste sie spielen, wenn sich die Gefangenen auf den Weg zur Arbeit auf dem Feld machten und nach zwölf Stunden Zwangsarbeit wieder heimkehrten. Sie musste auch spielen, als Güterzüge direkt bis zu den Gaskammern fuhren.
Wie haben Sie die Ankunft in Auschwitz erlebt?
Es war ganz furchtbar für uns. Man hat uns immer gesagt, dass wir in ein Arbeitslager kommen würden. Als wir Auschwitz erreichten, standen dort drei Männer in zivil. Wir dachten im ersten Moment, das wären unsere Vorarbeiter. Sie waren auch ganz nett und sagten:„ Wer gehbehindert oder krank ist, als Frau ein kleines Baby dabei hat oder über 45 Jahre alt ist, soll einfach auf die Lastwagen steigen.“ Dort waren auch junge Menschen, die ebenfalls mit den Lastwagen und mit ihren Verwandten mitfahren wollten, um sie nicht zu verlieren. Sie hat man runtergeholt und behauptet, sie seien jung und könnten laufen. Gleichzeitig brächte man die Menschen auf den Wagen in das Lager. Wir haben das natürlich geglaubt und dachten, dass es nicht so schlimm sein könne, wenn sich die Nazis darum kümmern, dass alle ins Lager gebracht werden. Es war unser Fehler so zu denken. Diese Autos sind alle direkt in die Gaskammern gefahren. Erst nach den grässlichen Prozeduren, wie dem Eintätowieren der Häftlingsnummer und dem Haarescheeren, sind wir in einen Block eingeteilt worden. Erst dort haben die neu eingetroffenen Menschen nach ihren Verwandten und Freunden gesucht und niemanden gefunden. Die Frauen, die schon länger in Auschwitz waren, haben uns dann erst aufgeklärt. Sie haben gesagt: „Die seht Ihr nie wieder, denn die sind alle ins Gas gegangen.“ Das war ein richtiger Schock für uns.
„Ich muss das überleben, damit ich mich rächen kann."
Wie wichtig war die Solidarität unter den Inhaftierten?
Wenn es die nicht gegeben hätte, dann würde ich heute nicht mit Ihnen sprechen können. Gott sei Dank bin ich nicht alleine nach Auschwitz gekommen, sondern mit vielen jungen Frauen. Natürlich haben wir uns gegenseitig geholfen. Ohne diese Solidarität wären noch mehr Menschen gestorben.
Gab es Gedanken und Hoffnungen, die den Alltag auf irgendeine Art aufgehellt haben, bzw. Ihnen Kraft gegeben haben?
Ich habe mir immer gesagt: „Ich muss das überleben, damit ich mich rächen kann. Für das, was man uns angetan hat. Mich bekommen sie nicht klein.“ Es gab viele Frauen, die es nicht ausgehalten haben. Ich weiß nicht, warum ich diese Zeit überlebt habe. Diese Erniedrigung und die Art und Weise, wie man uns behandelt hat. Anscheinend war ich stark genug. Andere waren es leider nicht. Die sind dann an den elektrischen Stacheldraht gelaufen und haben sich das Leben genommen. Für die Nationalsozialisten waren wir keine Menschen mehr. Wir waren nur noch Nummern und schlimmer als Tiere, in den Augen der Nazis nicht lebenswert. Wenn Sie heute an Ihre Zeit in Auschwitz zurückdenken, welche Bilder erscheinen als erstes? Alles war schlimm. Es gibt viele Dinge, die man immer wieder vor dem inneren Auge sieht. Zum Beispiel die ankommenden Züge, bei denen wir am Tor stehen und mit dem Mädchenorchester Musik machen mussten, während die Züge direkt in die Gaskammern gefahren sind. Das wussten die Menschen in den Zügen natürlich nicht. Wir aber wussten das. Was ist das für eine psychische Belastung? Man konnte nicht helfen. Hinter uns stand die SS mit ihren Gewehren und hätte uns sofort erschossen, wenn wir nicht gespielt hätten. Diese Hilflosigkeit war das Schlimmste, was ich erlebt habe.
Heutzutage tritt Esther Bejarano als Rednerin und Musikerin auf. In Schulen, auf Demonstrationen und auf Konzerten mit der Rapgruppe Microphone Mafia und ihrem Sohn Yoram erzählt sie ihre Geschichte. Sie will aufklären. Aufzeigen, was war und was passieren kann, wenn man sich rechtem Gedankengut nicht in den Weg stellt. Dafür lebt die 93-Jährige. Sie sieht es als ihre Aufgabe an und als ihre Rache an den Menschen, die ihr vor über 70 Jahren unbeschreibliches Leid zugefügt haben.
Was gibt Ihnen die Kraft, noch immer aufzutreten und an die Taten der Nazis zu erinnern?
Ich sehe die Aufklärung der Menschen als meine Pflicht an, weil es keine vernünftige Aufklärung gab. Neulich habe ich die Frage gestellt bekommen, ob es noch nötig sei, dass man am 27. Januar den ermordeten Juden gedenkt. Natürlich ist das wichtig! Es wird aber viel zu wenig gemacht. Man müsste jeden Tag daran denken. Warum laufen heute wieder so viele Nazis rum? Nach dem Krieg ist es nahtlos weitergegangen. Viele Nazis sind in der Regierung von Adenauer gewesen, anderen wurde die Flucht ins Ausland ermöglicht. Darunter waren große Verbrecher. Ist es also ein Wunder, dass wir eine Partei wie die AfD haben? Dass es die NPD gibt? Es wird nichts dagegen getan. Ich stelle mir oft die Frage, warum die Regierung nichts dagegen unternimmt. Gerade in Deutschland. Es dürfte keinen einzigen Nazi in Deutschland geben. Das hätte man sofort unterbinden müssen. Doch diesen Geist, diesen faschistischen und nazistischen Geist, den gab es immer.
„Ihr müsst alles wissen, was damals geschah, damit so etwas nie wieder vorkommt"
Welche Parallelen zu den 1930er-Jahren sehen Sie?
Es gibt natürlich welche. Es gab bereits Karikaturen, die sich gegen die Moslems richteten. Das gleiche gab es damals im „Stürmer“ gegen die Juden. Und der Antisemitismus ist natürlich vorhanden. Außerdem gibt es die Entwicklung, dass es so viele verstreute Nazigruppen im Land gibt. Genau wie damals. Die haben sich zur NSDAP zusammengetan. Wenn das wieder passiert, haben wir nichts mehr zu lachen. Das ist eine Sache, bei der ich denke, so hat das damals angefangen. Darum meine ich, dass man der Jugend klarmachen muss, was damals gewesen ist. Ich sage den jungen Leuten immer: „Ihr seid nicht schuld daran, dass das damals passiert ist. Ihr macht euch aber schuldig, wenn Ihr nichts über diese schreckliche Geschichte wissen wollt. Ihr müsst alles wissen, was damals geschah, damit so etwas nie wieder vorkommt.“
Haben Sie Sorge, dass die Erinnerung an den Holocaust verblasst?
Ich glaube nicht, dass das geschieht. Aber die Kinder und Enkel von den damals Beteiligten erfahren nichts von ihnen. Dass sie nicht sagen, „So wie es damals war, darf es nie wieder sein“. Das ist der große Fehler. In allen Schulen, in denen ich war, gibt es immer viele Schüler, deren Großeltern Nazis waren, aber nicht davon berichteten. Wenn ich den jungen Menschen meine Geschichte erzähle, erhalte ich Briefe, in denen sich die Schüler bedanken, weil sie durch mich erfahren, wie es damals war.
Was muss also geschehen?
Aufklärung. Wir brauchen Aufklärung. Man hat viel zu lange geschwiegen. Erst als 1979 der Film „Holocaust“ herauskam, haben sich die Menschen mit dem Thema befasst. Meine Nachbarn kamen zu mir. „Um Gottes Willen. Was haben Sie denn erlebt? Sowas haben wir Deutsche gemacht?“ Man muss immer weiter erzählen und daran erinnern. Es geht nicht anders. Nun haben wir aber ein Problem. Wir Überlebende von Auschwitz leben nicht mehr lange. Es gibt nur noch ganz wenige Zeitzeugen, die etwas erzählen können. Für die Jugendlichen ist es aber ganz wichtig, dass jemand vor ihnen steht, der die Geschichte erlebt hat. So ist es ein Erlebnis. Das ist etwas komplett anderes, als wenn es in einem Buch geschrieben steht.
„Die Menschen verstehen die Zusammenhänge zwischen Gestern und Heute nicht."
Was können Sie persönlich tun?
Man hört mir zu. Das ist ganz wichtig. Die Leute wissen, ich war im KZ und habe etwas zu sagen. Das ist mein Glück. Gegen mich wird nicht protestiert. Zum einen habe ich viel Kontakt zu antifaschistischen Leuten, aber ich komme auch in andere Kreise, die sonst mit dem Thema nichts zu tun haben wollen und kann dort meine Meinung kundtun. Es gibt natürlich Leute, die davon nichts mehr wissen wollen. Die Menschen verstehen die Zusammenhänge zwischen dem Gestern und Heute nicht. Das versuche ich zu ändern, indem ich meine Geschichte erzähle. Hinzukommt, dass Sie auch noch Musik machen. Ja, auch wenn ich viele Auftritte ohne die Band Microphone Mafia habe, ist die Sache mit der Musik eine tolle Geschichte. Wir leben vor, dass man mit anderen Menschen und einer anderen Kultur wunderbar auskommen kann. Wir sind in unserer Band mit drei Generationen und drei Religionen auf der Bühne. Wir sind Moslems, Christen und Juden. Wir wollen den Menschen zeigen, dass man mit allen Menschen auskommen kann. Wenn er nicht gerade ein Verbrecher ist, kann jeder mit jedem auskommen. Ganz unabhängig davon, woher jemand kommt. Wenn ich dann daran denke, dass diese Nazis Häuser anzünden, in denen Geflüchtete leben. Weil sie sie nicht haben wollen. Weil sie Angst haben. Der Kapitalismus erzieht die Menschen zum Egoismus. Nichts tut ihnen mehr leid. Sie sind der Empathie beraubt. Das ist furchtbar. Das muss man durch Vorleben und Aufklärung ändern. Das ist das Wichtigste.
Man fragt sich, wo das noch hinführen soll.
Ich weiß es ehrlich nicht und muss sagen: Ich habe Angst. Die politische Situation ist beängstigend. Es ist ja nicht nur in Deutschland so. Wenn ich mir Donald Trump oder andere Populisten anschaue. Es gibt nur noch Kriege. Wir sagen, wir helfen Ländern, indem wir Waffen verschicken und verkaufen. Menschen, die heute zu uns kommen, iehen aus Gebieten, in die wir Waffen verkaufen, und wir wollen sie nicht haben.
Was hoffen Sie, dass die Menschen aus Ihrer Geschichte lernen und mitnehmen?
Zuallererst sollen sie es sich anhören. Dann sollen sie wissen, dass man etwas tun muss, dass solche schrecklichen Verbrechen nicht mehr vorkommen. Es gibt so viele Menschen, die lange nicht mehr an das Thema gedacht haben. Meine Aufgabe ist es, dahingehend aufzuklären und so die Leute zu animieren, sich zu engagieren. Ich erlebe oft, dass die Leute mir zuhören und dann wieder mitmachen. Das ist doch wunderbar.
Liebe Esther Bejarano, vielen Dank für Ihre Zeit und das Gespräch!
(lf)
Foto: FC St. Pauli